Mein Freund Tom
(Stoma seit 1995)
Begonnen hat alles am Anfang der 90-er Jahre. Ein klassischer Verlauf über drei bis vier Jahre.
Schmerzen, Durchfälle, Krämpfe. Ich lernte jede Menge Behandlungen, Therapien und Diäten kennen. Alles half irgendwie. Kurzfristig. Weil die Schübe vergingen. Bis sie wiederkamen. Dann wurde
wieder was ausprobiert.
Mein Körper war schon völlig vergiftet von der Entzündung. Mein Gesäß war übersäht mit Analfisteln. Ich hatte gerade noch 60 kg bei 180 cm Körpergröße.
Ich brauche niemanden zu erzählen, wie mein Leben damals ablief.
Wenn ich mich noch außer Haus gewagt habe, dann nur irgendwo hin, wo ich alle möglichen Toiletten kannte, um jederzeit eine zu erreichen.
Denn der Kopf spielt uns dann noch dazu ganz böse Streiche, und man braucht in den unmöglichsten Situationen ganz dringend eine.
Ob das eine Autofahrt ist, wo man im Stau steht oder in der Schlange an der Supermarktkasse usw. Ich denke, wir kennen das alle irgendwie.
Zum Glück kam ich dann zu einem Urologen, der die Symptome erkannte. Und er war ein Studienkollege von Prof. Berger bei den Barmherzigen Brüdern in Graz.
Er hat mich sofort zu ihm geschickt und dieser wiederum sogleich ins Krankenhaus, wo ich dann zwei Wochen lang alle möglichen und unmöglichen Darmuntersuchungen kennenlernen durfte.
Mit dem Ergebnis Morbus Crohn, Analfisteln, Fisteln zwischen den Darmschlingen und einem Konglomerattumor am Übergang von Dünndarm zum Dickdarm.
Und mit dem Hinweis, dass das sofort operiert gehört.
Was ich dann auch ein paar Wochen später gemacht habe.
Es war eine schwierige Operation, die viele Stunden gedauert hat. Es gab jede Menge zu sanieren, wie man so schön sagt.
Und ratet mal, wovor ich die größte Angst hatte? Richtig. Die größte Angst hatte ich davor, mit einem Stoma wach zu werden.
Es war aber nicht geplant. Sagte man mir. Ich weiß bis heute nicht, ob sie mich nur beruhigen wollten, denn als ich zu mir kam, hatte ich eines. Und für mich ist in dem Moment eine Welt
zusammengebrochen.
Was wusste man denn auch schon von einem Stoma? Nichts. Außer, dass es furchtbar war.
Und die Informationen waren äußerst mager. Ich konnte es die ersten Tage nicht mal ansehen. Abgesehen davon, dass ich ziemlich starke Schmerzen hatte.
Aber ich hab mich dann gezwungen, mich damit auseinanderzusetzen. Denn ich konnte es ja auch nicht ändern in dem Moment.
Was mich beruhigte war, dass mir mitgeteilt wurde, es würde nach zwei bis drei Monaten rückoperiert werden.
Na ja, damit konnte ich mich anfreunden. So als medizinische Kurzzeitnotwendigkeit.
Also begann ich es selbst zu versorgen. Lernte es kennen. Und ich hatte es ganz gut im Griff, als ich nach zwei Wochen entlassen wurde.
Mein aktuelles Gewicht war damals 54 kg.
Aber mein Körper begann sich zu erholen.
Ich hatte unbändigen Appetit, dauernd Hunger und hab mich durch kiloweise Joghurt, Käse und Gummibärchen gefressen. Ja, gefressen. So kann man das wirklich bezeichnen.
Aber das Spannende zu davor war, dass ich es einfach konnte.
Und ich hab´ es sowas von genossen, das kann sich gar keiner vorstellen.
Ich bin stundenlang im Café im Einkaufszentrum gesessen, hab´ die Leute beobachtet und war einfach nur glücklich. Glücklich darüber, dass ich da einfach stundenlang sitzen konnte, ohne Angst
haben zu müssen, die nächste Toilette im Notfall nicht zu erreichen. Ich brauchte die nämlich nur mehr, um mein Stoma auszuleeren. Das war fast wie ein Wunder für mich.
Ich kam auch mit der Versorgung ganz gut zurecht. Natürlich mit Rückschlägen, wenn z.B. der Verschluss aufging oder es undicht wurde.
Das machte mich oft ziemlich wütend. Aber ich hab auch gelernt, damit umzugehen.
Und umso selbstverständlicher ich mit meinem Stoma umging, umso weniger „Unfälle“ sind mir passiert.
So kam es, dass ich mein Stoma irgendwann nicht mehr gehasst sondern geliebt habe.
Denn ich konnte wieder beginnen, alles zu tun, was mir in meinem Leben Spaß gemacht hat.
Natürlich hatte ich noch meine Schübe, aber die waren nun nicht mehr begleitet von Durchfällen und panischer Toilettensuche. Die Schmerzen reichten zwar immer noch aus, um mich flachzulegen, aber
der psychische Druck, die Isolation, und die Angst waren nicht mehr meine ständigen Begleiter. Und das hat mir sowas von gut getan.
Also genoss ich mein Leben. Meine wiedergewonnene Lebensqualität. Ich genoss sie so sehr, dass ich den Rücklegungstermin immer wieder weiter nach hinten geschoben habe.
Ein paar Jahre später hatte ich wieder einen Schub. Einen ganz bösen. Er war so schlimm, dass ich in die Stomaambulanz nach Graz gefahren bin, bzw. mich fahren ließ.
Dort stellte man fest, dass sich unter meinem Stoma ein faustgroßer Abszess gebildet hatte. Diesen musste man sofort operieren. Entstanden war er durch den aggressiven Verlauf meines
Crohns.
Die Operation wurde für den nächsten Tag angesetzt. In diesem Zusammenhang wurde mir mitgeteilt, dass man auch gleich die Rückverlegung machen würde, da der Darm grundsätzlich gut aussehen würde
und der Zeitpunkt perfekt sei.
Da begann ich zu überlegen, ob ich das überhaupt wollte.
Ich begab mich zum Chirurgen, zur Stomaschwester und zum Oberarzt, um ihnen allen die gleiche Frage zu stellen:
„Wie hoch stehen die Chancen, dass es mir ohne mein Stoma mindestens genauso gut
gehen wird wie mit meinem Stoma?“
Keiner konnte oder traute sich mir mehr sagen als „50%“.
Dann traf ich eine Entscheidung, die ich auch jedem mitteilte.
Wenn ich diese Garantie nicht habe, dann werde ich auch mein Stoma nicht hergeben.
Ich ging in die Stomaambulanz, nahm einen Stift und machte mir auf meinem Bauch, auf der stomagegenüberliegenden Seite, einen Punkt.
„Wenn mein Stoma aufgrund dieses Abszesses auf meiner rechten Seite weg muss, dann will ich es auf der anderen Seite wieder haben!“
Im Nachhinein erfuhr ich dann, dass ich schon in Narkose auf dem Operationstisch lag, als der Chirurg bei der Stomaschwester nachfragte, was er denn auch machen solle.
Diese bestätigte meinen Wunsch und mein Stoma wurde nicht entfernt, sondern von rechts nach links verlegt.
Die Operation hat mir dann noch viele Probleme bereitet, da ich eine Bauchfellentzündung und eine entzündete Naht hatte. Wobei das wahrscheinlich auch damit zu tun hatte, dass ich eine Woche nach
der Operation auf eigenen Wunsch nach Hause ging. Heute betrachtet, war das ein Fehler.
Aber ich hatte noch immer mein Stoma und meine Lebensqualität.
Ich bekam stärkere Medikamente und meine Schübe wurden seltener und nicht mehr ganz so heftig.
Ich begann mein Leben noch mehr zu leben und zu genießen.
Mein Stoma war einfach ein Teil von mir. Ich hatte es akzeptiert und es störte mich zu 99% nicht mehr. Natürlich hat man seine Momente, wo man es hasst, aber die werden immer seltener.
Und ich habe in meinem Leben nichts ausgelassen. Ich habe wahrscheinlich mit meinem Stoma weitaus mehr Aktivitäten gesetzt, als es die meisten gesunden Menschen tun.
Ich habe vor meiner ersten Operation schon Reitunterricht genommen. Und auch mit Stoma habe ich meine Reitausbildung fortgesetzt. Ich bin regelmäßig geritten, über viele Jahre. Am meisten liebte
ich Wanderritte - ein, zwei, ja vier Tage am Pferd. Übernachtet auf einer Alm in einer Hütte. Es war eine wunderschöne Zeit, die ich ohne Stoma niemals hätte erleben können.
Ich war segeln. Eine Woche am Segelboot zwischen Italien und Slowenien. Es war wunderschön einfach vom Boot ins Meer zu springen und zu schwimmen.
Ich habe auch begonnen zu tauchen. Es hatte mich schon immer fasziniert.
Bei meinem ersten Tauchkurs hatte ich noch das Problem, dass ich zuerst keine Tauchtauglichkeitsbestätigung von einem Arzt bekommen habe, da es nur wenige Erfahrungen für Tauchen mit Stoma
gegeben hat. Ich fand dann aber einen Sportchirurgen, der mir diese Bestätigung gab, sodass ich meine Tauchausbildung beginnen konnte.
Und ich habe sehr viel getaucht, hab meine Ausbildung weiter betrieben.
Bis ich dann sogar meine Tauchlehrerausbildung machte und sechs Monate in die Türkei flog, um dort in einem Club als Tauchlehrer und Tauchguide zu arbeiten.
Es war eine wahnsinns tolle Zeit, und ich war den ganzen Tag draußen, am Boot oder im Wasser.
Mein Stoma störte das nicht. Es hat nicht mal jemand bemerkt, dass ich eines habe, denn mein Stoma und ich waren inzwischen gute Freunde und harmonierten ausgezeichnet.
Inzwischen habe ich in Österreich meine Ausbildung bis zum Drei-Stern-Tauchlehrer gemacht und habe auch schon andere Tauchlehrer ausgebildet. Es ist heute noch mein liebstes Hobby.
Ob in Ägypten bei Haien und Seekühen, auf den Malediven, zwei Wochen am Boot mit täglich drei Tauchgängen bei Mantarochen, Delfinen und vielen bunten Fischen oder in Kroatien, um und in
tiefliegenden Schiffswracks aus dem ersten und zweiten Weltkrieg, welche zu erforschen, ausgesprochen viel Spaß macht.
Ich habe auch wieder Spaß daran gefunden zu Wandern, auf Berge und Almen zu gehen, Gipfel zu besteigen. Es ist eines der schönsten Dinge, früh morgens auf einem Gipfel zu stehen und die Sonne
aufgehen zu sehen.
Weiters habe ich mit meinem Stoma wieder begonnen zu laufen, zu schwimmen, Rad zu fahren.
Ich habe mit einigen Kollegen von der EFCCA erfolgreich einen 20-km-Stadtlauf in Brüssel absolviert. Ich habe an einem Firmentriathlon teilgenommen und als zweitältester Teilnehmer für alle sehr
überraschend den dritten Platz belegt.
Schifahren ist genau so wenig ein Problem wie die tagelangen Motorradtouren, die mich in viele schöne Gebiete von Österreich, Deutschland, Slowenien und Kroatien gebracht haben.
Der höchste Bungy-Jump in Europa, von der 192 m hohen Europabrücke in Tirol, war ebenso ein unvergessliches Erlebnis mit absolutem Suchtfaktor.
Es gibt noch viele Dinge, die ich mit meinem Stoma gemacht habe. Unzählige Reisen in inzwischen knapp 40 Länder dieser Welt. Von Österreich über ganz Europa und Island bis nach China. Alles ohne
wirkliche Probleme.
Auch beruflich war das Stoma für mich bis heute kein Hindernis.
Natürlich habe ich keine körperlich schwierige Arbeit, das würde es komplizierter machen, jedoch hat mir mein Stoma ermöglicht in den letzten 27 Jahren, in denen ich das Stoma hatte, ohne
Unterbrechung beruflich tätig sein zu können. Ich hab sehr viele Jobs gemacht, war 10 Jahre lang selbständig und habe auch derzeit einen 40-Stunden-Job und eine kleine Firma nebenbei.
Ihr seht also, dass dieses Stoma für mich der absolute Glücksfall war! Natürlich hatte ich am Anfang Angst, Rückschläge, unmögliche und peinliche Situationen, aber das Wichtigste war es, dieses
Stoma zu akzeptieren, seine Vorteile hervorzuheben und zufrieden damit zu leben.
Es hat mir ermöglicht mein Leben so zu leben, wie ich es mir gewünscht habe. Der Crohn hat dadurch mein Leben nicht mehr bestimmt und nicht mehr drastisch eingeschränkt.
Ich habe auch festgestellt, dass es an mir liegt, wie die Gesellschaft, meine Freunde, Bekannten, Verwandten, mein Gegenüber mit meinem Stoma umgeht.
Es ist wie ein Spiegel. So wie ich mein Stoma betrachte und es lebe, die Einstellung, die ich zu meinem Stoma habe, das alles spiegelt sich wieder in den Reaktionen und im Verhalten der
anderen.
Das gilt auch in der Partnerschaft. Hast du selbst ein Problem mit dem Stoma, dann wird es auch dein Partner haben. Akzeptierst du es und nimmst es positiv, dann wird sich das auch auf deinen
Partner übertragen.
Es gibt nichts, was an einem Stoma schlecht ist. Ganz im Gegenteil. Es kann Leben retten und es kann ein erfülltes Leben ermöglichen.
Ich hab´ das erlebt in den letzten 27 Jahren und ich werde
es weiter leben, weil es mich glücklich macht.
Ich weiß natürlich, dass nicht jeder mit seinem Stoma so zufrieden ist wie ich. Dass es viele gibt, die große Probleme mit ihrem Stoma haben. Sei es von der Anlage her, von der Versorgung oder
von der Einstellung. Ich möchte mit diesem Artikel auch nicht alles schönreden. Ich hatte selbst ja auch meine Probleme, welche ich aber genauso akzeptiert und zu lösen versucht habe.
Es gibt Kompromisse, aber es gibt die Möglichkeit, ein aktives und ausgefülltes Leben zu führen.
Ich möchte euch mit diesem Artikel nur Mut machen, dass das Leben durch ein Stoma nicht vorbei
ist, im Gegenteil, es kann die Möglichkeit bringen, ein neues und schönes Leben zu führen.
Rudolf Breitenberger